Beziehungsgestaltung

Beziehungsgestaltung im Videosetting

Zwischen Pixeln und Präsenz: Beziehungsgestaltung online


Die Beziehung zwischen Therapeut*in und Klient*in ist das Herzstück jeder psychologischen oder beratenden Arbeit – egal ob online oder offline. Doch sie verändert sich spürbar, wenn wir nicht im selben Raum sitzen, sondern einander durch einen Bildschirm begegnen. 

Ein Videogespräch ist weder ein privater Zoom-Call mit Freund*innen noch ein Arbeitsmeeting. Genau darin liegt die Herausforderung: In diesem Zwischenformat müssen wir die therapeutische Beziehung bewusster gestalten, durch unsere Präsenz, unsere Sprache und unsere Haltung. Anders als in der Praxis können wir nicht auf dieselben Signale und Selbstverständlichkeiten zurückgreifen. Wo sitzen wir im Raum? Wer reicht wem die Hand? Wie warm ist die Stimme im realen Raum? Vieles davon fehlt oder zeigt sich anders. Und trotzdem: auch digital lässt sich eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen, pflegen und vertiefen.

Gerade im virtuellen Raum ist es wichtig, aktiv eine Verbindung herzustellen: durch bewusste Begrüßungen und klare Abschiede, durch Blickkontakt (trotz Kamera), durch Klarheit in Sprache und Struktur und durch ein aufrichtiges Interesse am Gegenüber. Präsenz im digitalen Raum zeigt sich nicht durch Perfektion, sondern durch echte Aufmerksamkeit. Die Beziehung entsteht über Zeit, über Rituale, über Wiederholung und über kleine Gesten, die Verlässlichkeit und Vertrauen vermitteln. 

 
Es ist nicht der Ort, der Nähe schafft, sondern der Mensch. 

Herausforderungen & Tipps

  • Fehlender oder schwacher Beziehungsstart
    Ohne den physischen Weg vom Wartezimmer in den Raum kann der Einstieg abrupt wirken. Es fehlt das kurze „Warmlaufen“ vor dem Gespräch. 

    📌  Tipp: Baue bewusst ein Ankommensritual ein (z. B. Smalltalk, kurze Atemübung, Bildschirmeinstellungen checken), um eine gemeinsame Basis zu schaffen.

  • Körperliche Distanz und begrenztes Sichtfeld
    Im Videosetting sehen wir nur einen Ausschnitt. Kleine Gesten, Bewegungen oder das Mitschreiben bleiben oft unsichtbar. 

    📌  Tipp: Sprich aktiv an, wenn du etwas nicht siehst („Ich sehe Ihre Hände gerade nicht. Möchten Sie mir zeigen, was Sie notiert haben?“). Ermutige Klient*innen, wichtige Gesten oder Materialien in die Kamera zu halten.


  • Herausforderung Blickkontakt
    Im virtuellen Raum ist Blickkontakt technisch bedingt nie ganz „echt“. Wenn du auf den Bildschirm schaust, wirkt es für dein Gegenüber, als würdest du leicht nach unten blicken, schaust du in die Kamera, siehst du selbst die Reaktion nicht.
    📌  Tipp: Platziere das Videofenster deines Gegenübers direkt unterhalb der Kamera. So bleibt dein Blick natürlich und gleichzeitig zugewandt. 


  • Fehlende gemeinsame „analoge“ Handlungen
    Viele kleine Beziehungsangebote aus der Praxis, wie z.B. ein Glas Wasser oder Taschentücher reichen, entfallen online. 

    📌  Tipp: Sprich dies aktiv an, um Selbstfürsorge (und Beziehung!) zu fördern („Leider kann ich Ihnen kein Glas Wasser anbieten, aber vielleicht holen Sie sich selbst eins, bevor wir starten.“). Das wirkt verbindend und zeigt Aufmerksamkeit.


  • Zerstreute Aufmerksamkeit
    Die Versuchung ist groß, im Hintergrund etwas anderes zu erledigen. Mikroverzögerungen im Blick oder in der Reaktion werden wahrgenommen. 

    📌  Tipp: Schließe unnötige Programme, deaktiviere Benachrichtigungen und erkläre sofort transparent, falls dich kurz etwas ablenkt („Sorry, mein Computer hat mir gerade eine ungewöhnliche Meldung angezeigt…“).


  • Technische Hürden und Unterbrechungen
    Verbindungsabbrüche, verzögerter Ton oder eingefrorene Bilder können den Gesprächsfluss stören.
    📌  Tipp: Bereite dich auf typische Störungen vor (Plan B wie Telefon griffbereit haben), und reagiere ruhig und gelassen. Ein kurzer, humorvoller Kommentar kann helfen, die Situation zu entkrampfen.


  • Paradoxe Nähe
    Die räumliche Nähe zur Kamera kann intensiver wirken als in der Praxis. Für manche ist das angenehm, für andere zu viel. 

    📌  Tipp: Sprich es an, wenn du das Gefühl hast, die Nähe wirkt ungewohnt. Passe ggf. die Kameraeinstellung oder den Abstand an.


Du oder Sie? 

Die Frage der Anrede – also ob du Klient*innen duzt oder siezt – gewinnt im digitalen Raum oft an zusätzlicher Bedeutung. Denn viele der nonverbalen Signale, die in der Praxis mit der Beziehungsgestaltung einhergehen, sind online weniger greifbar. Sprache wird dadurch noch zentraler.

Was spricht für das Duzen?

  • Nähe und Vertrautheit können leichter entstehen.
  • In manchen Kontexten (z. B. Coaching, Kreativarbeit) ist das „Du“ kulturell üblich oder wird sogar erwartet.
  • Viele jüngere oder international orientierte Zielgruppen empfinden das „Du“ als natürlicher.

Was spricht für das Siezen?

  • Es schafft eine respektvolle, professionelle Distanz.
  • Es kann für Klient*innen mit bestimmten biografischen Erfahrungen oder kulturellen Hintergründen Schutz und Struktur bieten.
  • In der klassischen psychotherapeutischen Praxis ist das „Sie“ nach wie vor der Standard.

Was ist online üblich?

Im digitalen Raum gibt es keine einheitliche Norm. Viele Berater*innen und Coaches duzen online, insbesondere wenn sie selbstständig und in sozialen Medien aktiv sind. In der psychotherapeutischen Versorgung ist das „Sie“ jedoch nach wie vor üblich – auch online.

Was passt zu dir?

Entscheide bewusst. Überlege dir: Wie möchtest du auftreten? Wie willst du wirken? Welche Haltung möchtest du sprachlich ausdrücken? Es gibt kein „richtig“ oder „falsch“, aber deine Entscheidung sollte zu dir, deiner Zielgruppe und deinem Arbeitsstil passen.



Reflexionsfragen - Beziehungsgestaltung

Nimm dir ein paar Minuten Zeit, um deine Gedanken zu den folgenden Fragen im Workbook festzuhalten.

  • Welche kleinen Beziehungsangebote aus der Praxis vor Ort fehlen dir online am meisten? Wie könntest du sie kreativ ersetzen?

  • In welchen Situationen hast du schon einmal bewusst das „Unsichtbare“ im Online-Setting angesprochen (z. B. Mitschreiben, Gesten, Gegenstände) und wie hat sich das ausgewirkt?

  • Welche Anredeform (du oder Sie) wählst du in deiner Arbeit? Warum passt sie zu dir, deiner Zielgruppe und deinem Setting?

  • Wie sprichst du in Online-Gesprächen Gefühle von Nähe oder Distanz an und welche Formulierungen oder Methoden haben sich für dich bewährt?

  • Gibt es Rituale oder wiederkehrende Elemente, die deine Online-Beziehungen stärken – und welche könntest du neu einführen?