Ur-Choice-Rechner
Schwangerschaft und Geburt können einen Einfluss auf den weiblichen Beckenboden ausüben, wobei sowohl die Schwangerschaft selbst als auch die Entbindung Faktoren für die Entstehung einer späteren Beckenbodendysfunktion mit sich bringen können.

Oft wird nur von den Risiken einer Bauchgeburt gesprochen, doch auch eine vaginale Geburt kann für den Beckenboden bzw. die Beckenregion problematisch werden. 
Es gibt mittlerweile immer mehr Studien dazu, wie eine Geburt möglichst beckenbodenschonend sein kann und welche Risikofaktoren es gibt.

Wir möchten mit diesem Beitrag aufklären und Dich unterstützen, eine informierte Entscheidung zu treffen.

Vorab einige Grundlagen:

Schwangerschaft & Beckenboden

Die Schwangerschaft selbst führt durch die hormonelle Umstellung 
  • zu Veränderungen der gesamten Muskel- und Bindegewebsstrukturen, 
  • zur Herabsetzung des Muskeltonus und 
  • zur Nachgiebigkeit der Bandverbindungen im kleinen Becken. 
Durch die vermehrte Gewichtszunahme während der Schwangerschaft verlagert sich unser Körperschwerpunkt nach vorne und es kommt zu einer Belastung des Beckenbodens durch unsere aufrechte Körperhaltung. 

Wissenschaftlich zeigen sich in der Spät-Schwangerschaft und postpartum eine verminderte Beckenbodenkraft und -aktivität im Vergleich zu Nicht-Schwangeren. Auch die Harninkontinenz (Blasenschwäche) tritt deutlich häufiger während der Schwangerschaft als davor auf. Etwa ein Drittel aller Schwangeren berichten von Inkontinenzsymptomen.
Der Zusammenhang zwischen Beckenorganprolaps (
Blasen- und Darmvorfall, Gebärmuttersenkung ) und Schwangerschaft bzw. vaginaler Geburt wurde im Rahmen einer schwedischen Studie (Swedish Pregnancy, Obesity and Pelvic Floor Study) untersucht. Hier wurde gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, einen Beckenorganprolaps zu entwickeln, zwei Jahrzehnte nach einer vaginalen Geburt doppelt so hoch ist, wie nach einer Bauchgeburt (14,6 %  zu 6,3%).

vaginale Geburt & Beckenboden

Durch Druck des kindlichen Kopfes während der vaginalen Geburt kann es zu einer Überdehnung des Beckenbodens mit Schädigungen am neuromuskulären System, Bindegewebe und an den Schließmuskeln für Harnblase und Darm kommen. Das kann in der Folge auch eine Kompression und Dehnung der zugehörigen Nerven (vor allem des Pudendusnerves) bewirken. Risikofaktoren für eine Pudendusschädigung sind vor allem 
  • die vaginal-operative Entbindung (per Zange), 
  • eine verlängerte Austreibungsphase (die letzte Phase der Geburt) und 
  • ein hohes kindliches Geburtsgewicht

Die körperlichen Folgen einer vaginalen Geburt können leichtgradige oder schwere, die Lebensqualität einschränkende Veränderungen sein. Das betrifft
 tägliche Aktivitäten, das psychische Wohlbefinden, die sexuelle Funktion und die allgemeine Lebensqualität.

Schwangerschaft, Geburt, sowie die postpartale Phase stellen häufig die höchste Beanspruchung des Beckenbodens in unserem Leben dar. 

Daher ist es so wichtig, schon vor der Entbindung zu herauszufinden, welche individuelle Risikokonstellation vorliegt, um der werdenden Mutter eine exakte Aufklärung und Information über das Risiko einer zukünftigen Beckenbodenfunktionsstörung bieten zu können. Dann können entsprechende Präventionsmaßnahmen und gegebenenfalls eine Risikoreduktion in die Wege geleitet werden.

Bauchgeburt & Beckenboden

Man könnte annehmen, dass nach einer Bauchgeburt kein Trauma am Beckenboden vorliegt. Neuere Untersuchungen widersprechen jedoch dieser Vorstellung:
Es kommt schon in der Schwangerschaft zu Veränderungen in der Beckenbodenmuskulatur und den Bändern. Aus MRT-Untersuchungen einer Schwangeren (mit späterer Bauchgeburt) in verschiedenen Schwangerschaftswochen sowie 3 und 12 Monate nach der Geburt ist sichtbar geworden, dass zum Beispiel 1 Jahr nach der Geburt immer noch Veränderungen in der Beckenbodenmuskulatur im Vergleich zur Untersuchung in der 15. SSW nachweisbar sind. Dasselbe gilt für eines der Mutterbänder, das die Gebärmutter mit dem Kreuzbein verbindet und Ligamentum das in der Prolapsentstehung / Senkung später im Leben eine Rolle spielt.
 
Auch finden sich 15 Jahre nach einer Bauchgeburt Beckenbodenbeschwerden, wie z. B. eine Belastungsinkontinenz bei 17,5 % der Frauen gegenüber 34,3 % nach Spontangeburt, eine hyperaktive Blase bei 14,6 % gegenüber 21,8 %, eine Analinkontinenz bei 25,8 % gegenüber 30,6 % und ein Genitalprolaps bei 9,4% gegenüber 30,0 %, sodass nicht von einer vollständigen Prävention der geburtsbezogenen Beckenbodenfunktionsstörungen durch einen Kaiserschnitt ausgegangen werden kann.

Berechnung der Risiken

Die Schwierigkeit eines Prognosemodells lag bisher darin, dass oft ein sehr langer Zeitraum zwischen der Geburt und der Entstehung einer späteren Beckenboden-Erkrankung besteht und es sich um ein multifaktorielles Geschehen handelt.  
Mit Hilfe von Langzeitdaten aus 2 großen Untersuchungen (SwePOP Study siehe oben und PROLONG Study) konnten prognostische Modelle entwickelt werden, die das Risiko für eine Beckenboden-Dysfunktion (also Beschwerden mit dem Beckenboden wie Stuhl- oder Harn-Inkontinenz, Beckenorganprolaps, sexuelle Funktionsstörungen), 12 und 20 Jahre nach der Entbindung berechnen können.
 

Dafür wurden Variablen gesucht, die vor und während der Geburt relevant sind.
Hier ergab sich, dass der Geburtsmodus und die Familienanamnese den größten Einfluss in einem Nachbeobachtungszeitraum von 12 und 20 Jahren hatten.
 
UR-CHOICE-RECHNER
Der als UR-CHOICE  bezeichnete Algorithmus fragt verschiedene Risikofaktoren in der 37./38. SSW ab. 

Diese werden in einen Online-Risiko-Kalkulator (siehe Button unten) eingetragen und je nach Angabe lässt sich für jede werdende Mutter ausrechnen, mit welchem individuellen Risiko für eine zukünftigen Beckenboden-Funktionsstörung sie beim jeweiligen Geburtsmodus rechnen kann/ muss/ sollte.

Die Eingabe beruht auf folgenden Haupt-Risikomerkmalen:
  • Blasenschwäche vor (während) der Schwangerschaft
  • Alter bei der ersten Geburt (über 35 Jahre)
  • BMI (größer als 25) vor der Schwangerschaft (Übergewicht und Adipositas)
  • positive Familienanamnese (Mutter und/oder Schwester leidet an einer Blasen- oder Stuhlinkontinenz oder haben einen Beckenorganprolaps, also einen Vorfall von Gebärmutter, Blase oder Darm)
  • geschätztes kindliches Geburtsgewicht (über 4000 g) 
  • mütterliche Größe (kleiner als 160 cm) 
Diese und weitere Infos werden in den Rechner eingegeben. 
Ermittelt wird dann automatisch ein Score, also ein Prozentsatz für das Risiko von Beckenboden-Funktionsstörungen auf lange Sicht.

Je nach vorliegendem Score können die Schwangeren dann in ein Low-, Intermediate- oder High-risk-Kollektiv eingeteilt werden. 


Liegen mehrere der oben genannten Risikofaktoren vor, fällt die werdende Mutter in das High-risk-Kollektiv, denn dann liegt das höchste Risiko für die Entstehung einer späteren Beckenboden-Dysfunktion vor. Hier sind Aufklärung und Prävention essentiell.
Der Rechner ist derzeit nur in englischer Sprache verfügbar.

Damit Dir die Eingabe Deiner Werte leichter gelingt, findest Du hier alle nötigen Daten inkl. Übersetzung:

maternal age at delivery 
Dein Alter zum Zeitpunkt der aktuellen Geburt 
(Hinweis: wenn älter als 35, dann bitte 35 auswählen)
number of previous birthsAnzahl der Geburten vor dieser 
(Hinweis 1: Ist es Deine erste Geburt, trage also eine 0 ein. 
Hinweis 2: Falls Du eine Zahl größer als 0 eingibst, folgt jetzt noch eine Frage zu den vorausgegangenen Geburtsmodi)
history of any vaginal birth
Wenn Du vorab mindestens eine vaginale Geburt hattest, klicke auf yes, anderenfalls auf no.
(Hinweis: Falls yes, wird nun genauer gefragt, welche Art von vaginaler Geburt).
history of forceps-assisted birth
Gab es in der Vergangenheit eine Geburt mit Hilfe einer Geburts-Zange? 
yes - ja oder no - nein
history of unassisted birth
Gab es in der Vergangenheit eine vaginale Geburt ohne Hilfsmittel?
(Hinweis: eine Saugglocke wäre hier ein Hilfsmittel)
yes - ja, Geburt ohne Hilfsmittel, also ohne Saugglocke und Zange
no - nein, keine Geburt ohne diese Hilfsmittel
total number of vacuum-assisted birthsGesamtzahl der Geburten mit Saugglocke
total number of unassisted vaginal births
Gesamtzahl der vaginalen Geburten ohne Hilfsmittel
history of any c-section
Hattest Du schon mal eine Bauchgeburt?
history of planned c-sections
Waren darunter auch (mindestens) eine geplante Bauchgeburt?
total number of planned c-sections
Gesamtzahl der bisherigen geplanten Bauchgeburten
total number of acute c-sections
Gesamtzahl der bisherigen Not-Kaiserschnitte
maternal pre-pregnancy weightdein Gewicht vor der Geburt, in kg 
(Hinweis: eine Gewichtsangabe in pounds kannst Du frei lassen)
maternal heightDeine Körpergröße in cm 
(Hinweis: eine Größenangabe in feet und inches kannst Du frei lassen)
estimated infant birthweightgeschätztes Geburtsgewicht des Kindes in Gramm
(Hinweis pounds und ounces kannst Du frei lassen)
estimated infant head circumferencegeschätzter Kopfumfang des Kindes in cm
history of diabetesHast  Du Diabetes? Ja oder nein
family history of POPGibt es in Deiner Familie Angehörige mit Beckenorganprolaps? (Vorfall von Blase, Gebärmutter, Darm, Senkungen dieser Organe)
ja oder nein
family history of UI
Leidet einer Deiner Angehörigen an Blasenschwäche?
ja oder nein
family history of POP
Leidet einer Deiner Angehörigen an Stuhlinkontinenz?
ja oder nein
pre-pregnancy UIBestand bei Dir vor der Schwangerschaft eine Blasenschwäche?
ja oder nein
UI during pregnancy 
Besteht aktuell, also während der Schwangerschaft eine Blasenschwäche?
ja oder nein

Und hier kommst Du jetzt zum Rechner und kannst Deine Daten eingeben:





Ergebnisse

Das System berechnet langfristige Prävalenzen von Beckenbodenfunktionsstörungen in Abhängigkeit des Geburtsmodus anhand zahlreicher, individueller Parameter. 

Mit dem UR-CHOICE-Rechner kann den Schwangeren wertneutral dargestellt werden, wie ihr individuelles Risiko für eine Beckenbodenschädigung durch Schwangerschaft und Geburt objektiv ist. 

Für den individuellen Fall lässt sich daraus ableiten, ob und wie stark eine Bauchgeburt das Risiko reduzieren könnte. Der protektive Effekt eines Kaiserschnitts ist dabei bei einer Schwangeren ohne Risikoprofil marginal, bei einer Hochrisikopatientin kann die Bauchgeburt aber durchaus zu einer deutlichen Reduktion des Risikos für eine Beckenbodenschädigung führen, das betrifft insbesondere die schwere Harninkontinenz. 

Wohlgemerkt, die UR-CHOICE-Risikostratifizierung trägt v. a. dazu bei, das große Normalkollektiv darin zu bestärken, natürlich zu gebären, denn er zeigt auch, dass die schützenden Effekte eines geplanten/ gewünschten Kaiserschnitts nur bei erheblichen Risikokonstellationen wirksam werden.

Und natürlich gilt: 

Da die Wahl des in einer individuellen Situation idealen Geburtsmodus nicht nur die werdende Mutter, sondern auch das Baby betrifft, ist es selbstverständlich, neonatologische Aspekte in eine entsprechende Risikoaufklärung zu integrieren.


Interpretation der Werte

Bereits während Du auf der linken Seite Deine Daten eingibst, rechnet der Rechner auf der rechten Seite.


In Abhängigkeit davon, wieviele Geburten Du in der Vergangenheit hattest, bekommst Du entweder die 12- oder die 20 Jahres-Prognosen:

12-Year Risk for Women with One or More Previous Births - 12-Jahre-Risiko für Frauen, die bereits geboren haben
20-Year Risk for Women with First Birth - 20-Jahre-Risiko für Frauen, für die die kommende Geburt die erste sein wird.


Die ganze rechte Spalte (average risiko of bothersome or treatment) gibt das durchschnittliche Risiko für Beckenbodenfunktionsstörungen an, durchschnittlich bezogen auf die gesamte untersuchte Studiengruppe. Diese Werte ändern sich nicht durch die Eingabe Deiner persönlichen Werte sondern können als Vergleich ("was ist normal") mit Deinen persönlichen Ergebnisse dienen.

Wir würden Dir empfehlen, die Spalten any - bothersome - treatment nicht weiter zu beachten, stattdessen aber DEIN Risiko einer Beckenbodenschädigung (vorletzte Spalte) bezogen auf den Geburtsmodus (erste Spalte) und verglichen mit der Gesamtgruppe (letzte Spalte) zu anzuschauen.

Wichtig ist auch:


Liegt ein erhöhtes Risiko vor, dann reicht in der Regel ein einfacher Rückbildungskurs nicht aus. 

Frühzeitiges Handeln bereits in der Schwangerschaft kann hier helfen: z. B. durch Dammmassage, Physiotherapie und Beckenbodentraining. 


Auch während der Geburt gibt es viele Möglichkeiten für den Beckenbodenschutz: Dammschutz, aufrechte Gebärposition, Pressdrang folgen statt Power-Pressen, ein wohlüberlegter Dammschnitt, Wasserentbindung, exakte Versorgung aller geburtshilflichen Läsionen und vaginal-operative Entbindungen auch nur wohlüberlegt einsetzen. 


Nach der Geburt kann eine frühzeitige Zusammenarbeit mit Hebammen, Physiotherapeuten und Gynäkologie-Praxen angestrebt werden, aber auch eine Beckenbodenrehabilitation unmittelbar nach der Entbindung, die Versorgung der Rektusdiastase oder die lokale Östrogenisierung in der Stillphase. Besonders hervorzuheben ist hier auch die Pessartherapie als vaginales Hilfsmittel. Sie ist eine der effektivsten Maßnahmen, mit der noch vor einem professionellen Beckenbodentraining nach circa 6-8 Wochen begonnen werden kann.


Bitte besprich' Deine Ergebnisse mit Deiner Hebamme und/ oder Deinem Frauenarzt / Deiner Frauenärztin. 



Vokabular

outcomes - Ergebnisse
pelvic organ prolaps - Beckenorganprolaps: Gebärmuttervorfall/ -senkung, Senkungen von Blase oder Darm
urinary incontinence - Urininkontinenz: Blasenschwäche
fecal incontinence - Stuhlinkontinenz: Verlust von Kot oder Winden/ Gase
any pelvic floor disorder - irgendeine Beckenboden-Erkrankung / Beschwerden
two oder more pelvic floor disorders - 2 oder mehr unterschiedliche Beckenbodenbeschwerden

route of delivery - Geburtsmodus (vaginal oder c-section/Bauchgeburt)
any | bothersome | treatment | bothersome or treatment  - hier geht es um das Risiko einen Beckenbodenfunktionsstörung zu erleiden und zwar in unterschiedlichen Ausprägungen, von gar nicht spürbar (any) über spürbar, aber nicht zwingend behandlungsbedürftig (bothersome) bis hin zu sehr einschränkend & behandlungsbedürftig (treatment)
average risk of bothersome or treatment - das durchschnittliche Risiko der Studiengruppe, vergleichbar mit dem, was "normal" ist