Aggressionsprobleme in der Verhaltensberatung

Interview mit Rolf C. Franck, erschienen in der SitzPlatzFuss 57


Rolf C. Franck ist seit über 25 Jahren als Verhaltensberater für Hunde tätig und sagt, dass es bei etwa 50 Prozent der Fälle in seiner Beratungspraxis um irgendeine Form von Aggressionsverhalten geht. Die überwiegende Mehrheit davon sind Begegnungsprobleme, betreffen also Hund-Hund-Aggression, wobei mindestens die Hälfte der Hunde im tatsächlichen Kontakt nicht mehr aggressiv ist und das problematische Verhalten nur an der Leine gezeigt wird. Auch zwischen Hunden im gleichen Haushalt gibt es öfter Schwierigkeiten. Die Fälle von Hund-Mensch-Aggression sind vielfältig: Häufig kommt es zu Problemen mit Besuchern im Haus, manchmal wird Aggressionsverhalten nur in Zusammenhang mit Ressourcen gezeigt, manche Hunde verhalten sich nur einzelnen Familienmitgliedern gegenüber aggressiv, andere reagieren immer in bestimmten Situationen mit Knurren und Schnappen. SitzPlatzFuss hat mit Rolf über seine Erfahrungen und seine Herangehensweise im Rahmen der Verhaltensberatung gesprochen.

SPF: Rolf, was besprichst du als Erstes, wenn sich ein*e Hundebesitzer*in wegen einer Verhaltensberatung meldet und erzählt, dass sein/ihr Hund aggressives Verhalten gezeigt hat?
Rolf: Ich lasse mir schon im telefonischen Vorgespräch berichten, was genau passiert ist, um eine Gefahreneinschätzung vornehmen zu können. Vor allem bei Aggressionsverhalten gegenüber Menschen ist es wichtig zu klären, wie schlimm der Vorfall war, wann etwas passiert ist beziehungsweise seit wann das Problem besteht und wie oft es zu Vorfällen gekommen ist. Manche Hundehalter*innen sprechen davon, dass ihr Hund „geschnappt“ hätte, und dann stellt sich heraus, dass er tiefe Bisswunden verursacht hat. Andere sprechen von „beißen“, obwohl es zu keinerlei Hautverletzungen gekommen ist. Als Berater kann ich nicht erwarten, dass meine Klient*innen die Situationen objektiv und mit dem gleichen Vokabular beschreiben. Für meine Einschätzung habe ich daher die Bissskala von Dr. Ian Dunbar im Hinterkopf und frage entsprechend konkret nach. Je nachdem besprechen wir, ob für die Beratungssituation dann Sicherungsmaßnahmen nötig sind. Und ich gebe immer erste Tipps zur Konfliktvermeidung bis zu unserem Gesprächstermin.

SPF: Hast du denn schon mal eine gefährliche Situation mit einem Hund während der Beratung erlebt oder bist du selbst gebissen worden?
Rolf: Ja, vor etwa 20 Jahren gab es einen Fall, bei dem mich ein Ridgeback im Gesicht verletzt hat. Und von einem Chihuahua bin ich auch schon mal gebissen worden, was natürlich entsprechend weniger gefährlich war. Beide Male hatte ich die Situation falsch eingeschätzt, und es war absolut meine eigene Schuld. In den letzten 15 Jahren ist es zu keiner gefährlichen Situation mehr gekommen, auch weil ich gelernt habe, mich Hunden gegenüber sehr höflich und passiv zu verhalten. Ich habe oft mit Hunden zu tun, die mit Besuch im Haus, speziell mit Männern und leider auch besonders mit Hundetrainern, ein Problem haben. Die Besitzer*innen sind dann meist ganz erstaunt, wenn ihr Hund nach einer Weile realisiert, dass von mir keinerlei Gefahr ausgeht, sich deutlich entspannt und sogar von sich aus Kontakt aufnimmt.

SPF: Wieso haben manche Hunde besonders mit Hundetrainern ein Problem?
Rolf: In den meisten Fällen bin ich nicht der erste Trainer, den die Klient*innen um Rat fragen. Ich schätze, dass 80 Prozent der Hunde bereits negative Trainervorerfahrungen haben. Es ist leider immer noch üblich, dass bei Aggressionsverhalten – genau wie bei allen anderen problematischen Verhaltensweisen – an den Symptomen „herumtherapiert“ wird. Statt aggressive Signale als Kommunikation des Hundes zu sehen, mit denen er ein Problem mitteilt, werden sie als Provokation empfunden. Da stehen meist dominanztheoretische Gedankenmodelle im Hintergrund: Knurren, Zähnezeigen oder gar Schnappen darf ein Hund nicht, also wird das Verhalten bestraft, um es zu unterdrücken. Und ich spreche hier von teilweise massiven, körperlichen Bestrafungen, die manche Trainer angesichts von Aggressionsverhalten scheinbar für gerechtfertigt halten. Das hat in der Regel das Problem verschlimmert, und ich habe es dann mit Hunden zu tun, für die die Auslösereize ihres Aggressionsverhaltens schon mit sehr hohen Erregungszuständen verknüpft sind, in die der Hund schnell gerät. Die Beratungs- oder Trainingssituation und die Figur des Trainers gehören für den Hund zu diesem Problemsetting mit dazu.
Auch wenn ein Hund in normalen Alltags- und Trainingssituation vor allem über Grenzen-Setzen und Einschüchterung trainiert wurde, wird es schwierig. Dann ist es für die Besitzer*innen selbstverständlich, dass ihr Hund Meideverhalten zeigt, und sie erkennen gar nicht, wann sich eine Situation zuspitzt. Solche Hunde überspringen bei Problemen oft mehrere Schritte auf der Eskalationsskala, weil sie generell nicht gelernt haben, dass ihre Bedürfnisse und Wünsche respektiert werden.

SPF: Wenn ein Hund knurrt, hat er also ein Problem, das man ernst nehmen sollte?
Rolf: Aggressives Verhalten erfüllt immer eine Funktion. Und wenn er knurrt, sollten wir uns freuen, dass er nicht schnappt oder beißt, und möglichst schnell die Situation deeskalieren. Genau wie man mit Kindern heutzutage schon im Kindergarten übt, „Nein“ zu sagen und ihre eigenen Grenzen auszudrücken, sollte man Hunden das Recht zugestehen, zu knurren. Idealerweise respektiert man aber schon ihre feineren Signale, damit auch das Knurren gar nicht erst nötig wird. Wenn „normales Reden“ nicht hilft, kann der Hund nur entweder aufgeben oder deutlicher werden.
Aggressiv zu werden ist eine der biologisch angelegten Stressbewältigungsstrategien, auf die ein Hund zurückgreift, wenn die Erregung steigt. Das dahinterliegende Problem kann völlig unterschiedlich sein, aber Erregung spielt immer eine Rolle. Vielleicht fehlen dem Hund andere Strategien, um Abstand herzustellen oder eine bestimmte Situation zu bewältigen. Vielleicht hat er Schmerzen oder befürchtet Schmerzen und möchte in Ruhe gelassen werden. Vielleicht ist er frustriert, und vielleicht hat er sogar Spaß daran, sich in seine Erregung hineinzusteigern. Es ist immer wichtig, den jeweiligen Verstärker für aggressives Verhalten zu identifizieren, und das ist normalerweise Erleichterung oder Lustgewinn.

SPF: Wie gehst du denn im Beratungsgespräch vor, um herauszufinden, was die Ursache und der Verstärker für das aggressive Verhalten eines Hundes sind?
Rolf: Ich versuche ganzheitlich an jeden Beratungsfall heranzugehen. Im Mittelpunkt des Gesprächs steht, wie der Hund sich in seinem Alltag und in der Problemsituation fühlt. Hier spielt die Entstehungsgeschichte des Verhaltens eine Rolle: Ist es zum Beispiel plötzlich zu Verhaltensänderungen gekommen? Gab es ein auslösendes Ereignis oder hat sich im Alltag des Hundes etwas verändert? Da in sehr, sehr vielen Fällen gesundheitliche Probleme und Schmerzen Ursache für Verhaltensprobleme und insbesondere für aggressives Verhalten sind, muss das unbedingt abgeklärt werden. Ich lasse mir nicht nur viel zur gesundheitlichen Vorgeschichte erzählen, sondern schaue mir auch die Körperhaltung und das Gangbild des Hundes an. Es kommt regelmäßig vor, dass ich Klienten zur Tierärztin beziehungsweise ihrem Tierarzt und/oder Hundeosteopath*in oder -physiotherapeut*in weiterempfehle und dass ein Training erst ergänzend zur (Schmerz-)Behandlung sinnvoll ist.
Dann besprechen wir, ob die verschiedenen Bedürfnisse des Hundes im Alltag hinreichend befriedigt werden. Gibt es hier eine Schieflage, kann es sein, dass der Hund das aggressive Verhalten als Ausgleich für unbefriedigte Bedürfnisse nutzt. Oder aber er ist durch seine Schieflage emotional nicht in der Lage, zusätzliche Stressoren auszuhalten. Sind gesundheitliche Probleme ausgeschlossen, hilft es meist schon, den Hund in ein besseres emotionales Gleichgewicht zu bringen, um das Verhalten in der eigentlichen Problemsituation deutlich abzumildern. Aber natürlich sprechen wir auch ganz konkret über die Momente, in denen der Hund bisher aggressiv reagiert hat, und wie sich alternative Verhaltensstrategien aufbauen lassen.

SPF: Worauf kommt es bei der Einschätzung der Problemsituation an?
Rolf: Auch hier gilt es einzuschätzen, wie sich der Hund fühlt und, vor allem, wie hoch seine Erregung ist. Auslösereize müssen erkannt und gebannt werden, das heißt meist: erst einmal möglichst vermieden werden. Langfristig sollen Auslösereize positiv gegenkonditioniert werden, manchmal ist aber Management und Vermeidung auch eine Dauerlösung. Hier kommt wieder das Thema Gefahreneinschätzung zur Sprache, denn manchmal ist die Sicherung des Hundes, beispielsweise durch das Abzäunen eines Bereichs im Haus mit Hundegittern, gleichzeitig Teil der Problemlösung. In diesem Zusammenhang wird das Lebensumfeld der Besitzer*innen besprochen und ob die Belastungen für alle Familienmitglieder tragbar sind.
Um die notwendige Grundlage für ein Training zu schaffen, muss die Erregungsbereitschaft des Hundes generell und speziell in der Problemsituation gesenkt werden. Dafür werden beispielsweise Entspannungsrituale aufgebaut und oft kommt der Gentle Leader zum Einsatz. Mithilfe dieses Kopfhalfters wird einerseits die Erregung gesenkt, da Reflexpunkte auf der Nase und im Nacken des Hundes angesprochen werden, andererseits lassen sich Ansätze von Aggressionsverhalten ausbremsen. Natürlich bietet der Gentle Leader keinen Bissschutz, er lässt sich, falls nötig, jedoch auch in Kombination mit einem Maulkorb benutzen. Das vorrangige Ziel ist es, immer im „blauen Fenster“ des Hundes zu trainieren, also in dem Bereich, in dem er über eine gute Selbstkontrolle verfügt und bewusste Entscheidungen treffen kann. Dieser Bereich soll durch das Training ausgeweitet werden.

SPF: Also zielt alles darauf ab, das aggressive Verhalten zukünftig zu vermeiden?
Rolf: Ja, und das ist etwas, was bei vielen Hundebesitzer*innen ein Umdenken nötig macht. Wenn zuvor aversiv arbeitende Trainer*innen die Familie beraten haben, dann wurde der Hund in der Regel in die problematische Situation gebracht, um das aggressive Verhalten auszulösen und bestrafen zu können. Meist wurde den Besitzern schon ganz zu Anfang des Trainingsprozesses gesagt, dass der Hund unbedingt mit einem Maulkorb gesichert sein muss – auch wenn es bis dahin nie zu Verletzungen gekommen ist. Trägt der Hund einen Maulkorb, kann er sich jedoch auch gegen Strafmaßnahmen nicht wehren und der/die Trainer*in ist auf der sicheren Seite.
Wenn man die emotionalen Systeme nach Panksepp im Hinterkopf hat, so sind es Angst und Wut, die zu Aggression führen. Auf der anderen Seite bewirken die emotionalen Systeme Motivation, Spiel und Fürsorge, dass der Hund friedfertiges Verhalten zeigt. Geht man emotionsorientiert an eine Verhaltensberatung heran, so versuche ich, gemeinsam mit dem/den Besitzern einen Weg zu finden, den Hund davor zu schützen, dass sein Wut- oder Angstsystem aktiviert wird. Gleichzeitig suchen wir nach Möglichkeiten, um die Systeme Motivation, Spiel und Fürsorge im Alltag möglichst zu stärken. Damit schaffen wir ein positives Gegengewicht zu den negativen Emotionen, denen der Hund im Alltag ausgesetzt ist. Meist besprechen wir verschiedene Änderungen im Tagesablauf des Hundes, um Veränderungen anzustoßen. Das eigentliche Training beginnt dann oft erst ein paar Wochen später.

SPF: Würdest du sagen, dass man mit dieser Herangehensweise allen aggressiven Hunden helfen kann?
Rolf: Nein, leider nicht. Man kann sicher in den allermeisten Fällen eine deutliche Verbesserung herstellen, aber man muss immer das Risiko im Blick behalten. Ob es überhaupt tragbar ist, einen Hund zu behalten, der einen Menschen gebissen und schwere Verletzungen verursacht hat, muss immer individuell beurteilt werden. Es hängt ganz stark von den Lebensbedingungen der Besitzer*innen ab, ob sie das entsprechende Management und Training überhaupt leisten können. In wenigen Einzelfällen habe ich sogar dazu geraten, einen Hund einzuschläfern zu lassen. Für viele Trainer*innen ist es ein No-Go, dieses Thema anzusprechen, aber ich finde es wichtig, sich die Optionen eines Hundes bewusst zu machen, der gefährlich gebissen hat. Einen solchen Hund in ein neues Zuhause zu vermitteln oder ins Tierheim zu bringen, ist nahezu unmöglich, was dazu führt, dass viele Hunde abgegeben werden, ohne ihre Probleme offenzulegen. Vor ein paar Jahren war ich zur Beratung bei einem älteren Ehepaar, das eine Dogge aus dem Tierschutz übernommen hatte. Sie hatten viele Jahre Doggenerfahrung, ich kannte sie mit ihren vorherigen Hunden, und nun wollten sie einer älteren Hündin eine neue Chance geben. Die Beratung suchten sie, weil die Hündin sie in verschiedenen Situationen sehr angespannt angeknurrt hatte. Ich hatte sofort beim Kennenlernen ein so schlechtes Bauchgefühl, dass ich den Besitzern am Ende des Gesprächs empfahl, die Hündin an die vermittelnde Tierschutzorganisation zurückzugeben. Das wollten sie auf keinen Fall. Einige Wochen später bekam ich die Rückmeldung, dass die Hündin ihre Besitzerin so schlimm gebissen hatte, dass diese letztlich drei Wochen im Krankenhaus verbringen musste. Die Hündin wurde nach diesem Vorfall eingeschläfert. Ich gehe fest davon aus, dass es auch in ihrem vorherigen Zuhause bereits Probleme gab, die der Tierschutzorganisation und den neuen Besitzern verschwiegen wurden.
Ich sehe nicht nur die Besitzer*innen, sondern auch die Berater*innen in der Verantwortung, alles dafür zu tun, zukünftige Beißvorfälle zu vermeiden, wenn sie Kenntnis von schweren Verletzungen haben, die ein Hund verursacht hat.

SPF: Was empfiehlst du Hundebesitzern, damit sie auf der Suche nach Hilfe bei Aggressionsproblemen ihres Hundes nicht an Trainer*innen geraten, die das Problem verschlimmern?
Rolf: Ich empfehle im Vorfeld die Website oder den Social-Media-Auftritt der Trainerin oder des Trainers zu durchforsten, um eine Einschätzung für ihre beziehungsweise seine Arbeitsweise zu bekommen. Falls diejenige oder derjenige eine Hundeschule betreibt, kann man sich das Training anschauen, ohne den Hund mitzunehmen. Letztlich muss man dem eigenen Bauchgefühl vertrauen: Wie fühlt sich das an, was ich sehe? Ist der Umgang mit Mensch und Hund respektvoll, freundlich und aufbauend? Würde ich mich hier trauen, „Nein“ zu sagen, wenn ich etwas nicht möchte?


Fallbeispiel 1:
Harry, ein zweijähriger Aussierüde, hat im Alter von circa einem Jahr ein Begegnungsproblem auf Spaziergängen entwickelt. Seine Besitzer, Saskia und Thomas, waren bis dahin regelmäßig zur Hundeschule gegangen und suchten Hilfe bei der Trainerin. Sie riet dazu, Harry bei Hundebegegnungen an der Leine kurz zu halten, zum Sitzen aufzufordern, körperlich zu blocken und ihn mit einer Wasserspritze zu bespritzen, falls er kläffte oder in die Leine sprang. Dieses Vorgehen beeindruckte Harry wenig, das Problem wurde jedoch zunehmend schlimmer. Seine Besitzer konnten nur noch zu zweit mit ihm spazieren gehen, damit im Fall einer Begegnung Thomas den Hund ins Sitz manövrieren und Saskia die Wasserspritzpistole bedienen konnte. Harrys Erregung in Begegnungen blieb hoch und seine Menschen suchten Hilfe bei einem anderen Trainer. Harry bekam einen Maulkorb verpasst, und in einer gestellten Begegnungssituation griff der Trainer den Aussie erst rechts und links im Nackenfell, um ihn hochzuheben und zu schütteln, und warf ihn dann auf den Rücken, wo er trotz verzweifelter Gegenwehr am Boden fixiert liegen bleiben musste. Seine Besitzer brachen das „Training“ ab, aber der Schaden war verursacht: Ab diesem Moment reagierte Harry aggressiv drohend bei Hundebegegnungen, wo er zuvor nur gebellt und gejault hatte, und zeigte das gleiche Drohverhalten gegenüber fremden Menschen.
Als ich Harry kennenlernte, zeigt er deutliche Vorbehalte gegenüber mir in der Trainerrolle. Er wirkte massiv gestresst von der Situation und erlebte auch insgesamt viel zu viel Stress in seinem Alltag. Am Ende einer ausführlichen Beratung standen eine ganze Reihe von Veränderungen an: Ich empfahl eine Abklärung von wiederholten Durchfallerkrankungen beim Tierarzt, eine Darmsanierung, Futterumstellung und eine ergänzende Fütterung von Tryptophan, B-Vitaminen und Magnesium. Harry bekam nun mehrfach am Tag kurze gemeinsame Zerr- und Apportierspiele, auch vor und auf dem Spaziergang. Zusätzlich sollte er mehr Schnüffel- und Kauzeiten bekommen. Die Schlafsituation musste verändert werden, damit Harry länger schlief und eine bessere Schlafqualität bekam. Er wurde mehrfach physiotherapeutisch an Hals und Rücken behandelt. In den nächsten vier Wochen vermieden Harrys Menschen so weit wie möglich jede Begegnung und fuhren für lange, entspannte Spaziergänge mit dem Auto in die Wildnis. Sie gewöhnten ihn an den Gentle Leader und konditionierten ein Markerwort, sodass wir vier Wochen später mit gezieltem Begegnungstraining mit ausgewählten Hunden und Menschen beginnen konnten. Dazu setzten wir Click-für-Blick ein und etablierten Spielzeugtragen als Sicherheits- und Stressventil. Als Nächstes trainierten Thomas und Saskia im Stadtpark mit breiten Wegen und Leinenpflicht weiter.
Harry meistert inzwischen Hunde- und Menschenbegegnungen mit entsprechendem Abstand stressfrei. Er kann entspannt vorbeigehen, muss aber achtsam und vorausschauend geführt werden, um Rückfälle zu vermeiden. Durch langsames Kennenlernen konnten zwei neue Hundefreundschaften aufgebaut werden, die Harrys Leben zusätzlich bereichern. Seine Skepsis fremden Menschen gegenüber ist in bestimmten Situationen noch deutlich präsent, wobei er seit Beginn des Trainings niemanden mehr angeknurrt hat.

Fallbeispiel 2:
Luna, eine vierjährige Colliehündin, hatte ein Begegnungsproblem mit anderen Hunden, reagierte aggressiv auf Kontakte am Zaun und zeigte starkes Jagdverhalten. Sie wurde von insgesamt drei Trainern für ihr Verhalten bestraft, unter anderem mit dem Werfen von Knallerbsen (!) für das Verbellen und In-die-Leine-Springen, bevor ihre Besitzer 300 Kilometer zu einem Urlaub mit Verhaltensberatung anreisten. Schon beim ersten Blick auf die Hündin fiel mir ihr auffälliges Gangbild und eine Schonhaltung beim Sitzen und Liegen auf. Die hinzugezogene Physiotherapeutin fand mehrere Blockaden entlang des Rückens und an beiden Hüftgelenken. Bei der von mir empfohlenen Tierärztin erhielt Luna nach dem Röntgen die Diagnose: mittlere HD mit Arthrose sowie eine Sklerose der Ulna.
In Lunas Fall wurde das verschriebene Schmerzmittel zum Gamechanger – zusammen mit der Erkenntnis ihrer Besitzer, dass sich die verschiedenen problematischen Verhaltensweisen ihrer Hündin entwickelt hatten, weil diese sich durch genügend Adrenalin im Blut vorübergehend Erleichterung von ihren Schmerzen verschafft hatte. Schon aufgrund der Befunde sollte zukünftig das Springen in die Leine und das Ausflippen am Zaun unbedingt vermieden werden. Luna wurde an den Gentle Leader gewöhnt und sollte mehr, aber dafür andere Spieleinheiten bekommen als bisher. Ich empfahl einen zweiten Zaun an der Straßenfront zu ziehen, um Abstand zu den Triggern herzustellen, dazu intensives Abruftraining mit hochwertiger Belohnung. Die Gegenkonditionierung des Auslösers „Hund in Sicht“ übten wir noch gemeinsam im Rahmen der Urlaubswoche mit attraktiver Futtertubenbelohnung. Zusätzlich wurden ein Umkehrsignal und das Schnüffelngehen nach ausgestreuten Leckerchen als Managementmaßnahmen aufgebaut. Zu Hause sollten schwierige Begegnungen erst einmal vermieden und die Schmerztherapie sowie die Behandlung durch eine Physiotherapeutin und Osteopathin weitergeführt werden.
Vier Wochen später erhielt ich die Rückmeldung von Lunas Herrchen: „Ich hatte schon keine Lust mehr, überhaupt mit Luna vor die Tür zu gehen. Jetzt freue ich mich auf jeden gemeinsamen Spaziergang.“