Falsche Erwartungen ans Hundetraining
Artikel von Rolf C. Franck, erschienen in der SitzPlatzFuss 61
Als Anbieter von Gruppentraining sind wir ständig damit konfrontiert, dass Kunden an einem Grunderziehungskurs teilnehmen wollen, weil sie Probleme mit ihrem Hund haben. Wenn es nur darum geht, die gegenseitige Verständigung zu verbessern und das alltägliche Zusammenspiel zu erleichtern, können Trainingskurse sehr hilfreich sein. Oft ist der Grund für die Anmeldung aber vielmehr ein Begegnungsproblem des Hundes, dass er zu Hause ständig bellt, nicht allein bleiben kann oder dem Nachbarskind die Zähne gezeigt hat. Wie kommt es zu dem Missverständnis von Hundemenschen, dass sich Hundeprobleme lösen lassen, indem man Sitz, Platz oder Abruf in einem Kurs übt?
Alte Traditionen
Man könnte sagen, es ist eine Art von Tradition, einen Hundeplatz aufzusuchen, wenn man mit dem Hund nicht zurechtkommt. Bis vor etwa 35 Jahren waren die Fachleute zum Thema Hund fast ausschließlich auf den Hundesportplätzen zu finden. So waren es ursprünglich Diensthundeführer und Schutzhundesportler, die zum Ansprechpartner bei Hundeproblemen wurden. In den 1080er-Jahren startete der Verein für Deutsche Schäferhunde (SV) mit dem „Augsburger Modell“ sogar eine Initiative, um gezielt neue Mitglieder zu gewinnen und unabhängig von der Rasse Familienhunde auszubilden. Die Bezeichnungen „Unterordnung“, „Kommando“ und „Gehorsam“ für das organisierte Exerzieren von ursprünglich militärisch geprägten Übungen wird bis heute verbreitet genutzt. Hinter diesen Begriffen ist zu erkennen, dass Hunde sich ihrem Befehlshaber gegenüber gehorsam verhalten sollen, wie militärische Gefreite in der Grundausbildung. Wenn ein Hund also zum Beispiel mit Knurren und Schnappen fremde Menschen auf Abstand hält, trifft er eigene Entscheidungen und ist damit aufsässig. Gleiches gilt, wenn er sein Futter verteidigt, seine Menschen an der Leine durch die Gegend zieht oder schlicht ignoriert, dass er abgerufen wird.
Die Vorstellung vom „braven Hund“
Wir positiv orientierten Trainer denken oft, dass die Zeiten von Befehl und Gehorsam, von Alpha und Rudelführer längst vergangen sind. Das sind sie außerhalb unserer Bubble jedoch noch längst nicht. Ich schätze mindestens die Hälfte aller Hundetrainer, der größte Teil der Bevölkerung und viele Biologen sehen die Dominanztheorie als Fakt an.
Historisch und kulturell ist unser Verständnis von Kontrolle, Hierarchie und Dominanz tief im westlichen Denken verwurzelt. Philosophen wie Aristoteles, Platon und die Stoiker stellten Tiere als minderwertig, unvernünftig oder schmerzunfähig dar. Gleichzeitig verbanden patriarchale Ideale Kontrolle und Autorität mit moralischer Stärke, vor allem im Männlichkeitsbild. Diese Denkweisen prägten auch die Hundeerziehung. Wenn unbewusst Gehorsam als Wert gilt und Kontrolle als Tugend, kratzen Probleme im Zusammenleben mit dem Hund auch am eigenen Selbstwertgefühl. Hundetraining soll daher in den Augen vieler Hundemenschen dafür sorgen, dass ihr Hund nicht mehr aus der Reihe tanzt, dass er „brav“ ist und sich „benimmt“.
Diesen Wunsch kann ich zwar verstehen, aber bei den allermeisten Problemverhalten macht klassisches Hundetraining überhaupt keinen Sinn. Tatsächlich sind die sichtbaren Verhaltensweisen des Hundes in den allermeisten Fällen nur Symptome einer tiefer liegenden Problematik. Sicher, mit einem zuverlässigen Abruf kann man unerwünschtes Hetzverhalten verhindern. Wenn der betreffende Hund aber das Hetzverhalten benutzt, um übermäßige Frustration, chronische Schmerzen, andauernde Angstzustände, Bewegungsmangel und ständige Langeweile zu kompensieren, kann ein isoliertes Abruftraining das Problem nicht lösen.
Viele Hunde leben ein Leben, das ihnen und ihren wichtigsten Bedürfnissen nicht gerecht wird. Mit anderen Worten: Es geht ihnen schlecht und sie versuchen mit übermäßigem Bellen, Weglaufen, Hunde-Anmotzen, Heftig-an-der-Leine-Zerren und Ähnlichem ihren Alltagsstress auszugleichen.
Beratung statt Training
Als Verhaltensberater ist es mir wichtig, den Hund persönlich (oder zumindest per Video) kennenzulernen und ausführlich mit den dazugehörigen Menschen zu sprechen. Um die wirklichen Ursachen eines Problems aufzudecken, muss ich einiges über die Vorgeschichte erfahren und die Lebenssituation des Hundes kennen. Gibt es eine Krankengeschichte zu dem Hund, bekommt er aktuell Medikamente? Wie sieht ein typischer Tagesablauf aus, wie viel schläft er? Was bekommt er zu fressen und wie sehen die Ausscheidungen aus? Wie ist das Gangbild und wie steht, sitzt und liegt er? Wie ist seine Ausstrahlung, was sind seine besonderen Bedürfnisse? Ohne diese und weitere Informationen kann man dem Hund und seinen Menschen nicht gerecht werden. Ich mache mir in der Beratungssituation viele Notizen zu den Erkenntnissen und zu Ideen für meine Empfehlungen. Dabei suche ich immer nach möglichst einfachen, leicht umzusetzenden Veränderungen. Diese sollten idealerweise auch schnelle Verbesserungen bringen. Bei dieser Vorgehensweise reicht in vielen Fällen ein einzelner Beratungstermin, um Mensch und Hund zu helfen und die entscheidenden Veränderungen anzustoßen. Meistens braucht es zusätzlich Unterstützung durch gute Tierärztinnen, Physios oder Osteos.
Bei bestimmt der Hälfte all meiner Beratungsfälle haben die Klienten vorher in mehreren Hundeschulen und/oder bei mehreren Trainerinnen und Trainern nach Hilfe gesucht. Diese versuchten fast ausnahmslos, die Probleme mit Training am Symptomverhalten anzugehen. Wenn es gut lief, wurden Menschen mit positiven Methoden angeleitet; wenn es schlecht lief, mit Bestrafungstraining in seinen verschiedenen Ausprägungen. Letzteres führte in den meisten Fällen zur Verschlimmerung der Situation. Weder positives und schon gar kein negatives Training kann jedoch ein Problem auflösen, wenn es dem Hund und seiner Familie schlecht geht. Die Menschen brauchen eine ganzheitliche Beratung und Verständnis, ohne Rangordnungs- oder Raumverwaltungsgeschwurbel.
Beispiele
Der Bouvierrüde Faun (vier Jahre) zeigte ein schwieriges Begegnungsverhalten gegenüber anderen Hunden. Seine wilden, teilweise gefährlichen Reaktionen auf Bewegungsreize waren explosiv. Der vorherige Trainer empfahl, Faun in der Hundeschule beim Agilitytraining zusehen zu lassen, damit er sich an die Reize gewöhnen könne und um seine Impulskontrolle zu verbessern. Als er mir später vorgestellt wurde, kam schnell heraus, dass Faun massiv frustriert in seinem Alltag war und viel zu wenig schlief. Mein Verdacht, dass er starke Rückenschmerzen hatte, wurde später ebenfalls bestätigt.
Der Große Münsterländer Onno (zehn Monate) nahm an fünf von zehn Stunden eines Kurses in der Hundeschule einer verhaltenstherapeutisch tätigen Tierärztin teil, während denen er durchgängig bellte und von seinem Frauchen kaum zu halten war. Nach der fünften Stunde beschloss die Besitzerin, den Kurs abzubrechen, und dachte darüber nach, Onno wieder abzugeben. Bei unserem Beratungstermin stellte sich heraus, dass auch Onno tagsüber kaum schlief und praktisch immer aufgeregt war. Dies wurde teilweise dadurch verursacht, dass er starke Darmprobleme hatte, vermutlich aufgrund unzureichender Entwurmung.
Border-Collie-Hündin Lotta (zwei Jahre) reagierte mit Aggressionen auf fremde Hunde und zeigte Angst vor unbekannten Menschen. Ihre Besitzerin hatte mit ihr bereits mehrere (Alltags-)Trainingskurse besucht und trainierte inzwischen Agility. Beim Hausbesuch bekam ich Lotta kaum zu sehen. Sie versteckte sich vor mir im Wohnzimmer und schaute nur gelegentlich kurz um die Ecke. Als wir mit ihr in den Garten gingen, fiel mir sofort eine deutliche Schonhaltung in der Hinterhand ins Auge, die nach starken Schmerzen aussah.
Diesen drei Hunden konnte geholfen werden, indem verschiedene Dinge in ihrem Alltag umgestellt wurden und sie tierärztlich, physio- und/oder osteotherapeutisch behandelt wurden. Sie hatten die Gemeinsamkeit, dass Training keinerlei Verbesserung des Verhaltens brachte, an dem ihre Menschen fast verzweifelten. Und sie hatten die Gemeinsamkeit, dass es ihnen unbemerkt schlecht ging und das vordergründig problematische Verhalten zumindest in diesen drei Fällen zum Teil eine gesundheitliche Ursache hatte.
Wann Training hilft
Als begleitende Maßnahme, nach einer Beratung, kann Training durchaus sinnvoll sein. Damit ein Hund jedoch überhaupt trainierbar ist, müssen wichtige Grundbedingungen gegeben sein. Er muss weitgehend gesund und schmerzfrei sein und eine stabile positive Alltagsstimmung aufweisen. Seine Bedürfnisse müssen gesehen und erfüllt werden. Damit er lernbereit ist, muss er sich in der Trainingsumgebung und mit den anwesenden Menschen (und eventuell Hunden) sicher und wohl fühlen. Unter diesen Bedingungen kann gutes, positives Training grundsätzlich eine Bereicherung sein. Trainierte Übungen können dann als Alternativverhalten für unerwünschte Reaktion dienen und damit den Alltag erleichtern.
Training kann die Kooperationsbereitschaft des Hundes fördern, beispielsweise wenn man Übungen wie Weitergehen, Rauf und Runter (Sofa, Bett, Treppe …), Bleiben und Herkommen positiv trainiert. Weiterhin kann man die allgemeine und situative Sicherheit durch gutes Training verbessern. Positives Maulkorb- oder Kopfhalftertraining sind hier oft sehr hilfreich. Das Training von Kooperations- und Konsenssignalen gibt dem Hund mehr Entscheidungsfreiheit, Selbstwirksamkeit und Kontrolle über sein Leben. Im Idealfall lernt er dadurch, aus für ihn unangenehmen Situationen herauszugehen, anstatt mit Aggression oder Erstarren zu reagieren. Gleichzeitig lernen die Menschen das Weggehen des Hundes zu respektieren und ihn in Ruhe zu lassen. Training hilft unter diesen Bedingungen, generell für Klarheit und Verständigung zu sorgen und wirkt bereichernd für alle Beteiligten.
Und letztendlich kann sogar das Training von klassischen „Gehorsamsübungen“, wie Sitz, Platz und Fußlaufen, einen positiven Effekt auf das Leben eines Hundes haben. Dann nämlich, wenn die gemeinsame Trainingszeit mit dem Menschen so aufgebaut ist, dass der Hund die Übungen mit aktivem Seekingsystem und voller Begeisterung lernt. Und wenn das Training dem Hund so viel Spaß, Action und Spiel bringt, dass es ein Highlight in seinem Leben darstellt, wo ansonsten vielleicht zu viel Langeweile war. Wenn also ein Problemverhalten entstanden ist, weil dem Hund genau das fehlte, kann auch ein Erziehungs(spaß)kurs diese Lücke schließen – vorausgesetzt, die Menschen haben das Kontrolldenken hinter sich gelassen.